28. Oktober 2021

Bernd Siggelkow: „Deutschlands verlorene Kinder“ zeigt, wie es in vielen Familien zugeht

Der kommende Dienstagabend, 2. November, ist ein ganz besonderer bei RTLZWEI. Wir beschäftigen uns ab 20:15 Uhr mit Kindern und Jugendlichen, die in ihrem jungen Leben schon schreckliche Erfahrungen machen mussten: Vernachlässigung, Gewalt, Missbrauch. Die Gründe für dieses Leiden mitten unter uns sind vielfältig. In einer Dokumentation von Jasmin Cilezic und einer anschließenden Talksendung beleuchten wir intensiv, was da schiefläuft und wie geholfen wird und werden müsste. Mehr dazu hier

Wir haben die über zwei Jahre entstandene Dokumentation der Kinderstiftung "Die Arche" gezeigt. Deren Gründer und Leiter Bernd Siggelkow sieht den Film als wertvollen Beitrag in der Diskussion um mehr Kinderrechte. Hier sein Gastbeitrag dazu: 

Als Familie Gillert 2016 das Geschwisterpaar Carmen und Erwin aufnimmt, ahnt die Pflegefamilie nicht, aus welchen Lebensumständen die beiden Kinder kommen.
"Deutschlands verlorene Kinder": Dank ihrer Pflegeeltern können die Geschwister Carmen und Erwin wieder lachen.

Kinder und Jugendliche haben keine Lobby. Sie sind machen sich in der Gesellschaft nicht lautstark bemerkbar, wenn ihre Interessen mal wieder hintangestellt werden oder sie so leben müssen, wie es der Dokumentarfilm „Deutschlands verlorene Kinder“ schmerzhaft zeigt. Umso wichtiger ist es, hinzuschauen, diesen Kindern und Familien zuzuhören und nicht nur Experten über sie reden zu lassen. 

Vor genau sechsundzwanzig Jahren habe ich in Berlin das Kinderhilfswerk die Arche gegründet. Die Arche ist eine Kinder- und Jugendeinrichtung, eine sogenannte offene Einrichtung. Zu uns kommen täglich rund 4.500 Kinder und Jugendliche, in 29 Häusern, verteilt über das ganze Land. Archen gibt es in Hamburg, München, Frankfurt, Berlin, Köln, Düsseldorf, Dresden, Leipzig und vielen weiteren deutschen Städten, aber eben auch in Warschau und eine in der Schweiz.

Viele der jungen Menschen, die in unsere Einrichtung kommen, leben in einkommensschwachen Familien, aber viele sind eben auch emotional benachteiligt. Sie erleben zuhause keine Zuneigung und auch nur wenig Liebe. Das suchen zahlreiche Kids dann in den Archen. 

Doku und begleitender Talk am Dienstagabend, 2. November 2021
Doku und begleitender Talk am Dienstagabend, 2. November 2021

Für uns spielen zwei wesentliche Säulen eine wichtige Rolle: Liebe und Beziehung. Für die Kinder und Jugendlichen sind nicht die Programme entscheidend, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spielen die entscheidende Rolle. Sie sind immer für die Kids erreichbar, tagsüber in den Häusern und nachts, wenn es denn notwendig ist, auch am Telefon.

Was findet sonst noch so in den Archen statt? Fast alle Kinder starten ihren Arche-Besuch mit einem kostenlosen Mittagessen, dann können sie ihre schulischen Hausaufgaben machen, Nachhilfeunterricht nehmen, spielen, Sport treiben oder auch einfachen nur chillen und abhängen. Und das an einem für sie sicheren Platz

Eine von 29 Arche-Einrichtungen
Eine von 29 Arche-Einrichtungen

Wir pflegen auch einen guten Kontakt zu den Schulen, denn viele unserer Kinder tun sich dort sehr schwer. Sie finden zuhause keine Unterstützung durch die zumeist alleinerziehende Mama, denn die hat häufig selber keinen wertigen Schulabschluss. Oft unterrichtet eine Lehrerin oder ein Lehrer bis zu 25 Kinder in einer Klasse.

Das Niveau der Kinder ist sehr unterschiedlich und so können weder die Kinder mit herausragenden Leistungen noch die schwächeren Kinder individuell gefördert werden. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich in unserem Land auf die Schule einstellen. Besser wäre es, wenn die Schule sich auf die Kinder einstellen würde. Dann könnte jedes Kind besser individuell gefördert werden.

Das geht aber nur mit mehr Personal. Wir brauchen an den Schulen mehr Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, aber eben auch Fachkräfte mit psychologischer Ausbildung. Daher fordern wir als Arche von der Politik eine Kindergrundsicherung von 600 Euro im Monat, wovon die Hälfte in die Kitas und Schulen fließen soll. So können wir unsere Kinder stärker fördern. Sie werden es uns später zurückzahlen, denn unser Land braucht starke Kinder, die später ein selbstbestimmtes Leben führen können. Allein von Transferleistungen kann man ein solches Leben nicht finanzieren.

Bernd Siggelkow, "Die Arche"
Bernd Siggelkow, "Die Arche"

Der Film „Deutschlands verlorene Kinder“ zeigt, wie es in vielen Familien zugeht. Er übertreibt nicht, und wir „erkennen“ leider das Zuhause zahlreicher Arche Kinder wieder.

Wir als Arche hoffen inständig, dass durch das Zeigen solcher Bilder die Menschen in unserem Land aufmerksam werden und mithelfen, solche Zustände für die Zukunft zu vermeiden. Vor allem von der Politik fordern wir ein stärkeres Engagement für Deutschlands verlorene Kinder. Wenn wir heute nicht in unsere Kinder investieren, haben wir sie morgen verloren. Ein starkes Deutschland braucht starke Kinder und dafür müssen wir bereit sein, Geld in die Hand zu nehmen. Vor allem für eine bessere und mehr Bildung. 


Veröffentlicht am 28. Oktober 2021 im Bereich: Gastbeitrag.
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